Psychotherapie zwischen Anspruch und Realität

Menschen, die aus politischen oder anderen Gründen ihr Herkunftsland verlassen müssen, brauchen vor allem Ruhe, Stabilität und Sicherheit, um die psychischen Folgen einer häufig als traumatisch erlebten Flucht bewältigen zu können.

In der psychotherapeutischen Traumatherapie ist der Begriff des sicheren Ortes ein zentraler. Ein innerer sicherer Ort wird imaginiert, um Ressourcen für eine Verarbeitung der erlebten Traumata nutzen zu können. Auch dem äußeren Ort kommt eine große Bedeutung zu. Im Idealfall geschieht Therapie an einem Ort außerhalb des Alltagslebens, der Sicherheit und Schutz der Privatsphäre garantiert. Auch für die Klient:innen von Hiketides ist es wichtig, einen solchen Ort zur Verfügung zu haben und diesen selbständig aufzusuchen. Dafür gibt es Fahrtkostenrückerstattung.

Psychotherapie vor Ort, im konkreten Fall in Flüchtlingsquartieren, ist hilfreich für Kinder, die noch nicht selbständig sind oder für Erwachsene, die an Orientierungslosigkeit und Angstzuständen leiden. Gespräche zwischen „Tür und Angel“, zwischen „Notschlafraum und Putzkammerl“, wie sie wegen fehlender geeigneter Räume durchgeführt werden müssen, Desorganisation und kommunikative Missverständnisse machen aber die große Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutlich. Intimität und der Schutz der Privatsphäre sind unter solchen Rahmenbedingungen nur in Ansätzen gewährleistet. Viele Menschen empfinden die Struktur und Organisation von Quartieren als entmündigend, manche fühlen sich z.B. durch Zimmerkontrollen in ihrer Privatsphäre, für die ihnen im Quartier ohnehin nur wenige qm zur Verfügung stehen, verletzt.

Speziell geflüchtete, vom Krieg traumatisierte Menschen brauchen einen sicheren Ort, den sie als den ihren bezeichnen können. Dies auch unter den schwierigen Bedingungen eines Flüchtlingsquartiers zu gewährleisten, braucht genügend personelle und finanzielle Ressourcen! Es braucht Wissen über die Folgen von Traumatisierung und Sensibilität hinsichtlich retraumatisierender Bedingungen. Nur in Kooperation mit den Mitarbeitenden in den Flüchtlingsquartieren, die therapeutische Settings ermöglichen, vorbereiten und deren Wert erkennen, kann es gelingen, selbst an solchen „Nichtorten des Übergangs“ Stabilität zu erwerben und Zukunftsperspektiven zu erarbeiten. 

Vor allem aber braucht es den politischen und gesellschaftlichen Willen, die menschenrechtliche Verantwortung gegenüber geflüchteten Menschen wahrzunehmen. Dazu gehören die Möglichkeit für Kinder und Jugendliche, ihrem Alter entsprechende Bildungs- und Integrationsmaßnahmen in gemischten Klassen und nicht in Ghettogruppen zu erhalten, Dazu gehören die gesetzlichen Rahmenbedingungen, einer geregelten Arbeitsstruktur nachgehen zu können, ohne Grundversorgung und Unterkunft zu verlieren. Nur so können längerfristige Perspektiven erarbeitet werden. Nur so, auf der Basis der äußeren Stabilisierung, kann auch der innere sichere Ort zu einem Ort der Heilung werden. 

Diese menschenwürdigen Bedingungen verdienen alle Menschen, unabhängig von ihrem Herkunftsland!

Robert Steiner, Hiketides, Psychotherapeut
Hildegard Schreckeis-Nägele, Hiketides, Vorstandmitglied 

Plattform für Menschenrechte Bericht 2023
Hiketides ist Mitglied der Plattform für Menschenrechte